Leseproben


  1. Aus dem Vorwort HEIDI BAUER-FELBEL &; ROLAND STÜBI
  2. Zum Kriminellen geboren? - ROLAND STÜBI
  3. Der „Sendlinger – Tor- Prozess“ München – ein ExkursWas war laut den Medienberichten geschehen? HEIDI BAUER-FELBEL
  4. Was wäre wenn …? Strafverfahren und Jugendgerichtsentscheide nach Gewaltdelikten in der Schweiz und im Vergleich zum Prozess in München – Ein Interview mit CHRISTOPH HU (geführt von ROLAND STÜBI
  5. Jugendliche Straftäter im medialen Diskurs -WILFRIED NODES
  6. Entwicklung von Jugendstrafrechtssystemen[1] Ursina Weidkuhn
  7. Alternativen zur Jugendhaft – Beispiel Arxhof - Renato Rossi
  8. Jugendhilfe im Strafverfahren – JuHiS - Christoph Lang
  9. Die Neuregelung des Jugendstrafvollzugsgesetzes des Landes NRW und ihre praktische Umsetzung in der (nun) JVA Wuppertal –RonsdorfRUPERT KOCH

  10. Zur notwendigen Kooperation von Jugendhilfe und Justiz– ein Praxisbeitrag aus Sicht der Jugendhilfe - Anne Behrendt &; Frank Mattioli-Danker

Aus dem Vorwort
HEIDI BAUER-FELBEL &; ROLAND STÜBI

Seite 13-15

… Aus Begegnungen und Diskussionen an internationalen Tagungen entstanden Fragen zu den offensichtlichen Unterschieden in den Gesetzen und der Praxis zwischen Deutschland und der Schweiz und die Neugierde, was denn verschieden ist und was wir fachlich für unsere Arbeit voneinander lernen könnten. Besuche, Fachreferate und Diskussionen in Einrichtungen der Jugendhilfe und der Justiz in Deutschland und der Schweiz vertieften diesen Einblick und ergaben Impulse für unsere eigene Praxis.
Im Vorfeld des internationalen FICE-Kongresses in Helsinki und des 13. Deutschen Jugendhilfetags in Essen im Jahr 2008 entschieden wir uns, diese Erfahrungen und Erkenntnisse zu sammeln und die dort beteiligten Kolleginnen und Kollegen zu Wort kommen zu lassen. Daraus entstand ein mehrjähriges Projekt unter Beteiligung des DBSH und der FICE Schweiz und die etwas gar kühne Idee, das Gesammelte zu veröffentlichen.
Die interne Arbeitsgruppe Jugendhilfe und Jugendstrafrecht des Fachbereiches Kinder- und Jugendhilfe des DBSH beteiligte sich an diesem Projekt und arbeitete ca. vier Jahre an dem Thema. Sie hat Kolleginnen und Kollegen aus unterschiedlichen Fachbereichen, Institutionen und Gremien, wie z. B. der AGJ, Jugendämter, Bewährungshilfe, Vollzugseinrichtungen und Ministerien zusammengebracht. Daraus haben sich neue und zum Teil dauerhafte Kontakte entwickelt.
Bis heute, gegen Ende 2011, konnten wir weitere Erfahrungen sammeln und zusätzliche Fachkräfte gewinnen, die uns Wissen aus ihrer Praxis zur Verfügung stellten.
Zu einem wichtigen Vergleichsthema zwischen den Systemen und der Praxis in Deutschland und der Schweiz wurde seit 2009 die Gewalttat der drei Schweizer Jugendlichen in München (Sendlinger-Tor-Prozess). Wir haben uns gefragt, wie bei vergleichbaren Taten in der Schweiz vorgegangen und geurteilt wird und haben dazu ein aufschlussreiches Interview führen können.

… Und so schwierig die Kooperationsbeziehungen zwischen Jugendhilfe und Justiz in der Jugendhilfe in Deutschland auch sind, so öffnet eine unabhängige und auf die Interessen der Jugendhilfe bezogene Jugendhilfe viele Chancen. Gleichzeitig wollen wir sehr dazu ermutigen, den „täterorientierten Ansatz“ in der Schweiz – auch gegen sich andeutende Widerstände – zu verteidigen. Wenn unser Vergleich neue Chancen für die Diskussion bisheriger Standpunkte bietet und dazu dient, das Beste aus beiden Systemen in den Blick zu nehmen, so hat unser Buch seinen wichtigsten Zweck erfüllt. …



Zum Kriminellen geboren?
ROLAND STÜBI
Seite 23-26

… Zum Kriminellen geboren? Nein!
Meine erste Reaktion auf diese immer wieder vorgebrachte These war ablehnend und wenig geduldig: Sicher nicht, das hatten wir schon mehrmals in der Geschichte, diese Versuche …
Ich nehme an, Sie kennen das, und es ging Ihnen vielleicht ähnlich. Aber, so einfach geht es wohl auch nicht …
Es gibt ja heute Erkenntnisse über das Gehirn – die sind nicht einfach zu vernachlässigen oder zu verneinen. Zudem leben wir in einer Zeit, die alles erklärt haben will, wo Ursache, Wirkung und Machbarkeit einen zentralen Stellenwert haben. Einfache Erklärungen sind gefragt. Nein, so einfach geht es wohl nicht.
„Zum Kriminellen geboren?“ – Mehrdeutig gefragt!!!
Meinen wir zum kriminellen Handeln oder zum Kriminellen als Person geboren? Für was für Straftaten geboren?
Sprechen wir von Karriere oder Schicksal? Von bewusstem Handelnkönnen der Menschen und der Fähigkeit, sein Leben selber in die Hand zu nehmen, und der Verantwortung, sein Leben zu gestalten, oder von ohnmächtigem Ausgeliefertsein, von Vorbestimmung gar?
Mit all meinen Überlegungen bin ich immer mehr zum Schluss gekommen, es gibt nur eine Antwort:
Ja, DIE Menschen sind zum Kriminellen geboren!

Das muss ich wohl erläutern: Kriminalität meint sämtliche Rechtsverletzungen von strafrechtlichen Tatbeständen! Das heisst, Gebote und Gesetze übertreten, die in einem Lebensraum, meist einem Staatsgebilde gelten.
Zum Kriminellen geboren meint demnach, fähig sein, bestimmte Taten zu begehen, die in meinem Lebensraum als Straftaten gelten, oder als Mensch veranlagt zu sein, solche Straftaten begehen zu „müssen“.
Aber auch hier haben wir ein Problem mit dem „Zum Kriminellen geboren“ sein.
Damit ist nichts gesagt über den Inhalt und die Art und Weise der Straftaten. Wir wissen alle, dass in den letzten Jahrhunderten und in den unterschiedlichen Regionen und Ländern dieser Welt sehr unterschiedliche Gesetze galten und gelten und dass Gesetze jederzeit von den Machthabenden eines Landes geändert werden können.
Stellen Sie sich vor, ein oder mehrere Länder beschliessen in den nächsten Jahren (mit knappen Mehrheiten!) fünf Gesetzesänderungen: Alkoholkonsum, Rauchen, Steuerhinterziehung und Sex ausserhalb der Ehe werden verboten und damit zu einer Straftat. Cannabis- und Heroinkonsum werden nicht mehr als Straftat gewertet.
Mit unserem heutigen Verhalten wäre es fast nicht mehr möglich, im einen oder anderen Fall nicht zum Kriminellen, zu kriminellen Taten geboren zu sein. Und es stehen plötzlich andere Menschen im Fokus der Kriminalbehörden! …




Der „Sendlinger – Tor- Prozess“ München – ein Exkurs
Was war laut den Medienberichten geschehen?

Ein Gewaltdelikt von Schweizer Jugendlichen in München und das Verfahren der deutschen Jugendstrafjustiz –Der Versuch eines Überblicks

HEIDI BAUER-FELBEL

Seite 39-42

… Die Tat
Im Jahre 2009 erschütterte ein Vorfall die Nachbarländer Deutschland und Schweiz. Einige ca. 16-jährige Schüler aus dem Kanton Zürich waren während einer Klassenfahrt nach München im Ausgang. Für die Zehntklässler war es ihre Abschlussfahrt. Begleitet wurden sie von vier Lehrern. Nach einer feucht-fröhlichen Feier im Park gingen drei von ihnen scheinbar spontan auf völlig unbeteiligte Personen los. Innerhalb von 10 Minuten verletzten sie fünf Menschen, die zufällig ihren Weg kreuzten, teilweise lebensgefährlich. Einer der Männer war körperbehindert und konnte sich kaum wehren. Noch zwei weitere Männer aus einer Gruppe wurden schwer verletzt. Mit dem Fuß hatte der Haupttäter einige Meter weiter einem anderen Mann dessen Kopf eingetreten, als das Opfer bereits wehrlos war. Wenig später verprügelten die drei Schüler einen weiteren Mann und einen bulgarischen Studenten. Alle waren Zufallsopfer.

Informationen und Nuancen über das Urteil
Das Urteil wurde etwa anderthalb Jahre nach der Tat gesprochen. Ein Jahr und sechs Monate, die die 16 Jährigen in Untersuchungshaft verbrachten.
Dann, nach diesen eineinhalb Jahren, wurden die drei Schüler aus der Schweiz zu teils langen Haftstrafen verurteilt.

-       Der Hauptangeklagte erhielt von der Jugendkammer des Landgerichts wegen versuchten Mordes und gefährlicher Körperverletzung eine Jugendstrafe von sieben Jahren.
-       Der zweite Täter erhielt ebenfalls wegen versuchten Mordes und gefährlicher Körperverletzung vier Jahre und zehn Monate Gefängnis.
-       Der dritte Angeklagte bekam wegen gefährlicher Körperverletzung eine Haftstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten.

Das Gericht blieb mit seinem Urteil damit noch deutlich hinter den Forderungen der Staatsanwaltschaft (neun, sieben und sechs Jahre) zurück. 
Die Jugendkammer gab in ihrer Begründung an, sie habe beim Strafmaß berücksichtigt, dass die Angeklagten mit ihren Opfern finanzielle Entschädigungen vereinbart hätten und zwei von ihnen ein Geständnis abgelegt hätten. 

Zu Lasten der Täter wurde im Urteil besonders die Intensität der Tat bewertet und seine Auswirkungen. Der lebensgefährlich Verletzte leide voraussichtlich ein Leben lang unter den Folgen des Gewaltexzesses.

Außerdem wertete das Gericht, wie der Gerichtssprecher ausdrücklich betonte, den Überfall auf einen Körperbehinderten im Park, entgegen der Anklage, nicht als versuchten Mord. Der Angriff wurde als nicht so gefährlich und die Verletzungen als nicht so schwerwiegend eingestuft.

Ein Antrag auf Verlegung der Schweizer Jugendlichen in eine Haftanstalt in der Schweiz wurde vom bayerischen Justizministerium zunächst aufgeschoben und schließlich abgelehnt. Möglich ist, dass dem Ministerium von der Schweiz her keine adäquate Haftanstalt in der Schweiz vorschlagen werden konnte. Haftanstalten für Jugendliche wie in Deutschland gibt es in der Schweiz bisher nicht. Wohin also hätte die Verlegung erfolgen sollen? …


Was wäre wenn …?
Strafverfahren und Jugendgerichtsentscheide nach Gewaltdelikten in der Schweiz und im Vergleich zum Prozess in München – Ein Interview mit
CHRISTOPH HUG
(geführt von ROLAND STÜBI)
Seite 45-48
Wie wäre das Verfahren konkret abgelaufen.
Nach den Überfällen auf verschiedene Opfer mit teils erheblichen Körperverletzungen wäre für die drei tatverdächtigen Jugendlichen zwecks Klärung der genauen Tatumstände und wegen sog. Beweisverdunklungsgefahr durch den Jugendanwalt bzw. durch den Haftrichter Untersuchungshaft (UH) angeordnet worden. Für die UH Jugendlicher stehen in der Schweiz separate Einheiten in Gefängnissen, getrennt vom Erwachsenenvollzug, sowie kleine geschlossene Durchgangsheime zur Verfügung. Die in separaten Einrichtungen untergebrachten Jugendlichen wären während der UH sozialarbeiterisch betreut und schulisch gefördert worden und hätten einer internen Beschäftigung nachgehen können. Sie hätten von Anbeginn an auch einen Rechtsbeistand erhalten. Die Dauer der UH wäre vom Bestehen des Haftgrundes abhängig gewesen. Sobald eine weitere Verdunklungsgefahr hätte ausgeschlossen werden können, hätten sie aus der UH entlassen werden müssen. Vorbehältlich einer Umplatzierung in eine andere Institution (siehe unten), hätten die Jugendlichen nach Hause zurückkehren können.
Hätte es ein forensisches Gutachten oder eine stationäre Abklärung gegeben?
Gleich nach Festnahme der Jugendlichen hätte sich der Sozialdienst der Jugendanwaltschaft mit der Persönlichkeitsabklärung des Jugendlichen befasst. Aufgrund der schwerwiegenden Straftaten (u. a. schwere Körperverletzung) wären zweifellos jugendforensische Fachstellen mit der Begutachtung der Jugendlichen beauftragt worden. Je nach konkreter Gefährdungssituation hätten diese Begutachtungen ambulant oder stationär vorgenommen werden können. Gehen wir davon aus, dass beim tatverdächtigen B eine Begutachtung in stationärem Setting – und nicht von zu Hause aus – indiziert gewesen wäre, hätte sich die Frage nach der Unterbringung in einer geschlossenen oder einer offenen Beobachtungsstation gestellt.
Was wären bei vergleichbaren Delikten und persönlichen Voraussetzungen vermutlich Ihre Anträge an das Jugendgericht gewesen?
Das schweizerische Jugendstrafrecht ist von seiner Grundidee her ein Täter- und nicht ein Tatstrafrecht. Für die Sanktion ist primär nicht die Schwere der Tat, sondern die persönliche Bedürftigkeit des jugendlichen Straftäters massgebend, und zwar stets unter dem Gesichtspunkt künftigen Legalverhaltens. Die Sachverständigen hätten voraussichtlich für A und C eine ambulante Betreuung und für B eine längerfristige Fremdunterbringung sowie für alle drei den Besuch eines therapeutischen Antiaggressionsprogrammes empfohlen. Da in der Schweiz seit 2007 das dualistische System gilt in dem Sinne, dass zusätzlich zu einer Schutzmassnahme auch eine Bestrafung zu erfolgen hat, hätte vorliegenden Falls hinsichtlich der Schwere des Tatverschuldens auch eine mehrmonatige bedingt vollziehbare Freiheitsstrafe in Betracht gezogen werden müssen. Eine ­solche Sanktionierung hätte nicht mehr im Rahmen eines jugendanwaltschaftlichen Strafbefehls erfolgen können. …


Jugendliche Straftäter im medialen Diskurs
WILFRIED NODES
Seite 49-53
… Damit verschob sich die mediale Debatte auf die Frage, ob, wie und wie lange man Kinder und Jugendliche fördern müsse, und ab wann Strafe notwendig wird, sozusagen als letzte Korrekturmöglichkeit.
Weiterhin aber werden die Zusammenhänge von Jugendhilfe, Bildungsförderung, Integrationsanforderungen und Prävention von Kriminalität medial kaum diskutiert. Es geht um die Frage wann und wie schnell Strafe einsetzen müsse. Neben Buschkowsky tat sich in diesem Zusammenhang insbesondere die verstorbene Richterin von Neukölln, Kirsten Heisig, hervor. Auch sie wurde von Talkshow zu Talkshow gereicht, um ihr Credo von den konsequenten, beschleunigten und vereinfachten Gerichtsverfahren zu publizieren, und darüber zu sprechen, dass die Eltern stärker zur Verantwortung gezogen werden müssten. Aber immerhin: Heisig spricht auch von der Notwendigkeit besserer Koordination von Schule, Jugendamt, Polizei und Justiz. Aber auch in ihrem Buch „Das Ende der Geduld“ geht es letztendlich darum, Strafe als Instrumentarium insbesondere dort und bei denjenigen wirksam werden zu lassen, wo Probleme massiv auftreten – in „Problemstadtteilen“ und bei Familien mit Migrationsgeschichte. ...

… So attraktiv die mediale „Vermarktung“ von Jugendkriminalität mit ihren verkürzten Migrations- und Lebenslagenerklärungen und der Forderung nach schneller Strafe auch sein mag, eine Mehrheit teilt diese Sichtweise nicht. Allerdings, und das ist die Kehrseite der Diskussion um Kriminalität allgemein, zielt die Bevölkerung auf eine Vermeidung sozialer Konflikte (zu 87 Prozent!) als Ziel der Sozialen Arbeit, auf der anderen Seite aber will man auch in Sicherheit vor Kriminalität leben.
Dies macht die gegenwärtigen Auseinandersetzungen um die Entwicklung der Gesellschaft in Deutschland und in der Schweiz sehr spannend, letztendlich geht es auch um eine Auseinandersetzung um die Frage, ob sich ein „(ordnungs-)rechtlicher“ oder ein „verständigungsorientierter“ Umgang mit (nicht nur) jugendlicher Delinquenz durchsetzen wird. Deutlich wird, dass die Rufe nach mehr und schnelleren Strafen, verbunden mit der Benennung besonderer Tätergruppen eine exkludierende und politisch zu instrumentalisierende Funktion haben. …


Entwicklung von Jugendstrafrechtssystemen[1]
Ursina Weidkuhn
Seite 57-66

…Entwicklung separater Systeme
Die gesonderte strafrechtliche Behandlung von Kindern und Heranwachsenden ist eine relativ junge Entwicklung. Zwar war Jugendlichkeit schon zu früheren Zeiten als Strafmilderungs- oder Ausschlussgrund anerkannt worden, doch umfassende Systeme mit ausführlichen Regelungen und separaten Institutionen entwickelten sich erst vor gut hundert Jahren.
Die entscheidende Wendung, die zur Ausbildung eines besonderen Jugendstrafrechts und seiner Ablösung vom allgemeinen Strafrecht führte, hatte ihren Ursprung in den neuen geistigen und sozialen Strömungen, welche Ende des 19. Jahrhunderts hervortraten. Sie bewirkten, dass der Kindheit und Jugend eine eigenständige Bedeutung als herausgehobene Lebensphasen zugewiesen wurde. Dank einer bereits zuvor in der Strafrechtswissenschaft erfolgten Neuorientierung am spezialpräventiven Täterstrafrecht erfasste die neue Zeitströmung auch bald das Strafrecht. Zusätzliche Impulse erhielt die Reformdiskussion durch praktische Erfahrungen, welche insbesondere in den USA und in England schon vorlagen. Dort hatte eine im frühen 19. Jahrhundert aus dem Armenrecht entstandene, wohlfahrtsorientierte Reformbewegung zur „Rettung“ mittelloser und schwieriger Kinder die Schaffung von spezialisierten Wohlfahrtsinstitutionen vorangetrieben und den Grundstein gelegt für die Errichtung des ersten Jugendgerichts in Chicago im Jahre 1899. Der Gedanke, dass Jugendliche einer anderen Behandlung als Erwachsene bedürfen, setzte sich zunehmend durch und führte zu Beginn des 20. Jahrhunderts in verschiedenen Teilen der Welt zur Schaffung separater Institutionen, Gerichte und Regelungen für angeschuldigte und straffällig gewordene Jugendliche.

Die inhaltliche Gestaltung und Zielrichtung dieser separaten jugendstrafrechtlichen Systeme hat im Verlauf des 20. Jahrhunderts unterschiedliche Schwerpunkte verfolgt. Die Entwicklung war insbesondere vom sich wandelnden „Bild des Kindes“ bzw. seiner Rechte geprägt. Der Weg führte von den „Kinderrettern“ zum Jahrhundertbeginn über eine liberale Befreiungsbewegung in den 60er/70er Jahren hin zu einer Kinderrechtsbewegung in den 80er Jahren.[9] Parallel dazu erlebten jeweils unterschiedliche Strafrechtstheorien einen Aufschwung. Aus diesen Bewegungen entwickelten sich verschiedene Regelungsmodelle zum Umgang mit jugendlichen Angeschuldigten, deren wichtigste Vertreter nachfolgend – ebenso wie weitere Tendenzen der jüngsten Zeit – kurz skizziert werden. ...
(… Wohlfahrtsmodell…Justizmodell…Konzept der Diversion…“Get Tough“…“Restorative Justice“…Kinderrechtsmodell…)



 Alternativen zur Jugendhaft – Beispiel Arxhof
Renato Rossi
Seite 229-237

… Der Arxhof ist ein­gebettet in das Strafmassnahmevollzugssystem der Schweiz. Man muss wissen, dass der gesetzliche Rahmen so ist, dass das Schweizer Jugendstrafrecht, und das gilt auch für junge Erwachsene, kein Tatstrafrecht, sondern ein Täterstrafrecht ist. Das bedeutet, dass der Rich­ter nicht beurteilt, wie schwer die begangene Tat war, sondern was der Jugendliche oder junge Erwachsene braucht, um resozialisiert zu werden. Diese Sichtweise prägt natürlich den ganzen Vollzug: Bei jungen Erwachsenen ist die Regel, dass immer eine Massnahme vor der Freiheitsstrafe steht und dabei muss man wissen, dass Freiheitsstrafen in der Schweiz eher eine Verlegenheitslösung darstellen und die Verhängung von Massnahmen die Regel ist. Erst wenn Massnahmen scheitern, kommt die Freiheitsstrafe zum Zuge. Hinzu kommt, dass die Freiheitsstrafen für Jugendliche sehr kurz sind. Bis 2007 waren es höchstens zwei Jahre, mittlerweile sind es vier Jahre. Aber diese vier Jahre gelten wirklich nur für sehr schwere Straftaten. Die Schweiz setzt nicht in erster Linie auf Strafen. Es ist die Überzeu­gung, dass Strafe im eigentlichen Sinne wenig wirksam ist: Wir sind überzeugt, dass es Strafen braucht. Das Gesetz bildet einen bestimmten Rahmen, und wenn der Verhaltensrahmen nicht eingehalten wird, braucht es eine Reaktion. Das wird nicht bezweifelt, dafür sind Stra­fen auch notwendig. Aber es ist nicht so, dass, je länger die Strafe dauert, sie umso nützlicher ist. Unsere Grundhaltung ist: Strafe ist ab einer bestimmten Länge nicht mehr wirksam. …



Jugendhilfe im Strafverfahren – JuHiS
(in der Vergangenheit und andernorts auch Jugendgerichtshilfe – JGH)
Christoph Lang
Seite 277- 282
… Mit ihren unterschiedlichen Aufgaben steht die JuHiS mitten in einem Netz von am Jugendstrafverfahren Beteiligten auf ganz verschiedenen Ebenen. Eine zentrale Stellung haben hier die Jugendstaatsanwaltschaft und die verschiedenen Abteilungen der Jugendgerichtsbarkeit als Kooperationsstellen und Adressaten inne…
…Organisationsstruktur in Freiburg
Freiburg ist eine Stadt mit ca. 220000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Hierzu zählen auch die ca. 35000 Studierenden. Durch die jungen Stadtteile Rieselfeld und Vauban ist Freiburg eine prosperierende Region mit einem relativ geringen Durchschnittsalter. …

…Weniger ist mehr: Entsprechend wissenschaftlicher Erkenntnisse im Bereich der Jugendkriminalität kann davon ausgegangen werden, dass in der Regel die Begehung von Straftaten in der Jugend nur vorübergehender Natur (Episodenhaftigkeit) ist und sich durch alle gesellschaft­lichen Schichten zieht, also in gewissem Sinn gewöhnlich (Ubiquität) ist und durch das Eingreifen gesellschaftlicher Kontrollinstanzen, gemeint sind damit in erster Linie die Polizei, Justiz und das Jugendamt, und der damit verbundenen Zuschreibungsprozesse eine sekundäre Abweichung ausgelöst wird (Labeling Approach). Vor diesem Hintergrund und mit Blick auf ein steigendes Anzeigeverhalten in der Bevölkerung, suchen wir in Bagatellfällen und bei Vorgängen, die von der Staatsanwaltschaft in vereinfachten Verfahren dem Gericht angetragen werden, zunächst von unserer Seite keinen Kontakt zu den jungen Menschen.

Täterorientierung
Wir sehen den jungen Menschen und dessen Erfordernisse mit der Brille der Jugendhilfe, unabhängig von dem Tatvorwurf. Wenn uns bereits der Anzeigentext vorliegt und aus diesem Hinweise hervorgehen, welche ein Einwirken bzw. Tätigwerden der Jugendhilfe erforderlich erscheinen lassen, nehmen wir Kontakt zu dem jungen Menschen und den Eltern oder Personensorgeberechtigten auf. Auf diese Weise kann es vorkommen, dass wir auch in vereinfachten Verfahren den jungen Menschen begleiten und vor Gericht über unser Vorgehen und die Erkenntnisse Stellung nehmen…

…Dass wir in Freiburg zu dieser Umsetzung und zu diesem Selbstverständnis gekommen sind, ist das Ergebnis eines andauernden Prozesses in der Auseinandersetzung mit bestehenden, bzw. früheren Strukturen und Kooperationspartnern.
Allzu oft hatte ich in der Vergangenheit das Gefühl, dass bei Kooperationen zwischen JuHiS und Justiz erwartet wird, dass die JuHiS sich über ihre gesetzlichen Aufgaben hinaus engagiert (beispielsweise das Anbieten von Sozialen Trainingskursen, TOA u.ä. sowie die Übernahme der Kosten dafür) während die Justiz bestenfalls erklärt zu tun, zu was sie ohnehin verpflichtet ist.
Erfreulicher Weise bringt der Generationenwechsel in der Freiburger Justiz auch einen neuen Wind in die gemeinsamen Gespräche und ein neues Kooperationsverständnis…



Die Neuregelung des Jugendstrafvollzugsgesetzes des Landes NRW und ihre praktische Umsetzung in der (nun) JVA Wuppertal –Ronsdorf
RUPERT KOCH

Seite 283-412

Die gesetzliche Grundlage des Jugendstrafvollzuges in NRW und ihre Entstehungsgeschichte
Seit dem 1. Januar 2008 bildet das Jugendstrafvollzugsgesetz Nordrhein-Westfalen vom 20. November 2007 (JStVollzG NRW)die gesetzliche Grundlage für den Vollzug der Jugendstrafe in diesem Bundesland.
Angesichts des Zwangscharakters der Vollziehung einer freiheitsentziehenden Sanktion – wie sie die Jugendstrafe darstellt – bedingt diese notwendigerweise eine Vielzahl von zum Teil erheblichen Eingriffen in die Rechtssphäre der von ihr betroffenen jungen Gefangenen. Gleichwohl war der Bereich des Jugendstrafvollzuges bis zu der nachfolgend zitierten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts weitestgehend durch bloße Verwaltungsvorschriften, namentlich die „Bundeseinheitlichen Verwaltungsvorschriften zum Jugendstrafvollzug“ (VVJug), geregelt. In gesetzlicher Form fanden sich hingegen rudimentär nur einzelne Bestimmungen in verschiedenen Bundesgesetzen.
Das Bundesverfassungsgericht hat sodann in seinem Urteil vom 31.05.2006 eine aus­reichende gesetzliche Grundlage für den Jugendstrafvollzug gefordert. Dabei hat das Gericht die Notwendigkeit einer in besonderer Weise auf die spezifischen Erfordernisse junger Inhaftierter zugeschnittenen gesetzlichen Ausgestaltung des Jugendstrafvollzuges deutlich betont, dies durch zahlreiche Vorgaben konkretisiert und dem seinerzeit für diese Rechtsmaterie noch zuständigen Bundesgesetzgeber eine Frist bis zum Ende des Jahres 2007 gesetzt…

…Durch die anschließend am 01.09.2006 im Rahmen der Föderalismusreform in Kraft getretene Änderung des Grundgesetzes ist die Gesetzgebungskompetenz auf dem Gebiet des Justizvollzuges, die zuvor der konkurrierenden Gesetzgebung unterfiel, in die Zuständigkeit der Länder verlagert worden. Mithin war nunmehr auch der Landesgesetzgeber in Nordrhein-Westfalen unter Beachtung der durch das Bundesverfassungsgericht gesetzten Frist zur Schaffung eines Jugendstrafvollzugsgesetzes berufen.
Die Landesregierung Nordrhein-Westfalen hat sich insoweit dazu entschlossen, unabhängig von der diesbezüglichen Kooperation zwischen anderen Bundesländerneinen eigenständigen Gesetzentwurf zu erarbeiten. Der Entwurf eines Gesetzes zur Regelung des Jugendstrafvollzuges in Nordrhein-Westfalen (Jugendstrafvollzugsgesetz Nordrhein-Westfalen – JStVollzG NRW) ist am 24. Mai 2007 in den Landtag Nordrhein-Westfalen eingebracht und das Gesetz nach einigen Änderungen im Gesetzgebungsverfahren am 20. November 2007 verabschiedet worden.
Gem. §130 Abs.1 JStVollzG NRW ist das Gesetz fristgerecht – entsprechend der Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts – am 1. Januar 2008 in Kraft getreten.
Das Gesetz ist gleichwohl zwischenzeitlich bereits zweimal geändert worden. Derzeit gilt es in der am 16. Dezember 2009 in Kraft getretenen Fassung. Die Änderungen betrafen die Aufhebung der speziellen vollzuglichen Vorschrift über das „Handeln auf Anordnung“ bzw. die Erweiterung der Unterbringungsmöglichkeit zum Vollzug der Jugendstrafe in „Einrichtungen in freien Formen“
Bisher sind zum (neuen) Jugendstrafvollzugsgesetz NRW weder ergänzende Verwaltungsvorschriften erlassen worden, noch sind solche nach einhelliger Auffassung des Justizministeriums und der Leitungen der Jugendanstalten des Landes erforderlich. Soweit die gesetzlichen Regelungen zum Jugendstrafvollzugsgesetz mit denen des Erwachsenen-Strafvollzuges identisch sind und Besonderheiten des Jugendvollzuges  nicht entgegenstehen, kann und soll jedoch ergänzend auf die Verwaltungsvorschriften (VV’en) zum StVollzG zurückgegriffen werden…

Die wesentlichen Daten und Fakten zur JVA Wuppertal-Ronsdorf
Im Frühjahr 2007 erhielt der Bau- und Liegenschaftsbetrieb (BLB), Niederlassung Düsseldorf, den Auftrag, ein entsprechendes Grundstück zu erwerben und bis Ende 2010 eine moderne Justizvollzugsanstalt für junge männliche Gefangene zu realisieren. Nach Sondierung und Wertung von über 30 Standorten im Bergischen Land wurde das ehemalige Bundeswehrgelände „Am Scharpenacken“ als das einzig in Frage kommende Grundstück ausgewählt. Nachdem die für den Bau erforderlichen Voraussetzungen getroffen waren, wurde innerhalb von eineinhalb Jahren das Baurecht für die Anstalt geschaffen. Die Grundsteinlegung erfolgte am 21. August 2009. Nach einer Bauzeit von lediglich zwei Jahren ist die Anstalt am 01. Juni 2011 der Justizverwaltung übergeben worden. Die Baukosten beliefen sich nach offiziellen Angaben auf 179 Mio. Euro.
Bei der JVA Wuppertal-Ronsdorf  handelt es sich um eine Einrichtung des geschlossenen Vollzuges für männliche Jugendstraf- und Untersuchungsgefangene mit 510 Haftplätzen, davon aktuell 100 für den Vollzug der Untersuchungs- und 410 für den der Strafhaft.
Zum Zeitpunkt der Inbetriebnahme im Juni 2011 waren der Anstalt 263 Planstellen zugewiesen. Angestrebt und seitens der Aufsichtsbehörde in Aussicht gestellt war eine – zwischenzeitlich nahezu erreichte – Personalstärke von ca. 300
Mitarbeitern (davon ca. 230 Bedienstete des Allgemeinen Vollzugsdienstes). Die Anstalt verfügt über 428 Einzelhafträume und 41 Doppelhafträume, insgesamt also 469 Hafträume. In drei der vier Hafthäuser befinden sich auf jeder der Ebenen (insgesamt elf Ebenen á zwei Wohngruppen) je drei und in einem Hafthaus auf jeder der vier Ebenen je zwei Doppelhafträume. Hinzu kommen 15 sog. Schlichtzellen (Hafträume ohne gefährliche Gegenstände), wobei sich auf jeder Ebene (zwei Wohngruppen) ein derart ausgestatteter Haftraum befindet.
Seit dem 01.08.2012 ist die Zuständigkeit der Anstalt im Rahmen eines landesweiten Modellprojekt um sieben Plätze für den Vollzug in freien Formen erweitert worden. Durchgeführt wird dieses Modell in der Jugendhilfeeinrichtung „Raphaelshaus“ in Dormagen.…


Zur notwendigen Kooperation von Jugendhilfe und Justiz
– ein Praxisbeitrag aus Sicht der Jugendhilfe
Anne Behrendt & Frank Mattioli-Danker
Seite 443-451

…Im folgenden Beitrag lassen wir die Sicht von verschiedenen Jugendlichen zu Wort kommen, um einen Praxistransfer zu ermöglichen…

… Bei den facettenreich vorgestellten Beispielen sehen wir, dass eine Vielzahl von mehr oder weniger „erzieherischen“ Akteuren (Eltern bzw. Elternteile, Fachpersonal der Jugendhilfe, Profis der Justiz sowie Ausbilder in Schule und Beruf) den Lebensweg der einzelnen jungen Menschen begleiteten. Allerdings führte dieser nicht zu dem erhofften Erfolg, der sozial und gesellschaftlichen Anpassung der Heranwachsenden, so dass die weitere Gesamtverantwortung an die Justiz übergeben wurde. Stellen wir hier die Forderung, dass die folgenden Paragraphen des exemplarischen Jugendstrafvollzugsgesetzes von Niedersachsen auch tatsächliche Anwendung und Umsetzung – der Vollzug ist erzieherisch zu gestalten – finden, bleibt zu klären, welche Erziehungsmethode erfolgreich im Vollzug angewendet werden kann, welche nicht hätte bereits im Vorfeld innerhalb der Jugendhilfemaßnahme greifen können. Was kann die Justiz bieten, was die Jugendhilfe bzw. Familiensysteme nicht anbieten können? ...

…Wenn wir also die erzieherische Perspektive von Jugendstrafen sowie den Ausbau sozialpädagogischer Begleitung, sowohl während des Übergangs als auch des Vollzugs innerhalb der Jugendhaftanstalt, fokussieren, bleibt aus Jugendhilfesicht zu wünschen bzw. zu fordern,
dass der Jugendliche ganzheitlich in seinem Entwicklungsverlauf und -tempo betrachtet wird, denn Jugendhilfe „heilt“ nicht sofort, sondern arbeitet individuell sowie beziehungs- und prozessorientiert, so dass Rück- und Fehlschläge nicht einfach „wegsanktioniert“ werden können,
dass das Prinzip „Vorrangigkeit der Jugendhilfe“ gilt und „die Haft“ erst als letztes Mittel gewählt werden sollte, insbesondere bei Heranwachsenden, deren Entwicklung durch eine Haftstrafe nochmals bzw. weiter negativ beeinflusst werden kann,
dass innerhalb des Hilfemaßnahmenkataloges wieder mehr intensivpädagogische Einzelbetreuungsmaßnahmen (auch im Ausland) fokussiert werden, auch bei vermeintlich höheren Kosten für den Staatshaushalt, denn insbesondere, wenn mit „dem Schutz der Bevölkerung“ argumentiert wird, kann doch auf diesem Weg das legitime Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft Berücksichtigung finden,
dass eine flexiblere Bereitschaft der einzelnen Kostenträger (Entsäulung bisheriger Refinanzierungsvorgänge) entsteht, so dass nicht nur gerichtlich auferlegte Sanktionen wie beispielsweise die Absolvierung eines Sozialen Trainingskurses auch durchgeführt werden können, sondern auch und insbesondere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Jugendhilfeeinrichtungen in die Lage versetzt werden, vor, in und nach Haft passgenaue Hilfen anbieten zu können. …





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